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220350

(2013) Wert, Dordrecht, Springer.

Über einige Kritiken an der Dichotomiethese und ihrer Struktur

Jürgen Ritsert

pp. 47-60

Sollte jemand völlig scherzfrei die These vertreten, es gäbe wissenschaftliche Tatsachenaussagen, die frei von jedem inneren Zusammenhang mit irgendwelchen Wertideen sind, dann würde er sich – sehr zurückhaltend ausgedrückt – durch eine erstaunlich extravagante Auffassung bemerkbar machen. Mir ist noch niemand begegnet, der so etwas aufgetischt hätte. Nehmen wir z. B. die gute alte Norm der Widerspruchsfreiheit aus Aristoteles' "Metaphysik", dann ist es den im Wissenschaftsbetrieb Werktätigen gemeinhin als Subjekten geboten, für die Widerspruchsfreiheit (logische Konsistenz) als Qualität ihrer Aussagen und Schriftstücke zu sorgen. Gewiss: Dass die Erfolgsquote derartiger Bemühungen selbst bei bestem Willen nicht 100 % sein kann, das gehört zum Menschlich-Allzumenschlichen an der Akademie. Doch die Konsistenz von Aussagen und Handlungen wird – auch im Alltag! – nicht nur von den Ansprechpartnern erwartet, sondern überdies als Eigenschaft von Aussagensystemen selbst (nicht zuletzt von Theorien!) verlangt und kritisch überprüft. Es verhält sich dabei wie mit der Tatsache, dass eine Aussage selbst unwahr sei kann, obwohl der Sprecher sie mit voller Überzeugung für wahr hält. Eine Theorie selbst sollte demnach normative Eigenschaften wie 'schlüssig", "gut bestätigt", "erklärungsstark", "prognosekräftig" etc. etc. aufweisen. Es handelt sich somit um Wertideen, welche die Zunft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit aller Selbstverständlichkeit als Gütekriterien von Theorien selbst ansieht. Doch sofort taucht das zusätzliche Problem auf, wie wohl die einzelnen Standards im Detail aussehen, welche eine Theorie nach der Auffassung aufweisen muss, um sich ein derartiges Gütesiegel zu verdienen. Auch für "wissenschaftliche Objektivität" legt sich die akademische Gemeinde einhellig ins Zeug. Aber bei näherem Hinsehen erweist sich "Objektivität" als alles andere denn eine homogene Norm. Sogar im Falle des an sich so selbstverständlichen Gebots der "Widerspruchsfreiheit" als einer Norm der Logik, die wir sowohl im Alltag als auch in den Wissenschaften beachten sollten, kann man an den Akademien auf die heftigsten Kontroversen stoßen. Natürlich denkt niemand im Ernst daran, eine Kugel sei dreieckig oder die wohlriechende rote Rose sei zugleich rot und nicht-rot. Kein Dialektiker, der bei Trost ist, wird eckige Bälle oder die eigentümliche Einfärbung jenes Dornengewächses in den Kanon sprachlich sinnvoller Merkmalsbestimmungen von Sachverhalten aufnehmen. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass G. W. F. Hegels Begriff des Widerspruchs in seiner "Wissenschaft der Logik" nicht mit dem aristotelischen Konzept des Widerspruchs als Kontradiktion (p und zugleich ¬p = falsch) gleichzusetzen ist, dann bekommt man es mit sehr weit in die Geschichte der Philosophie zurückreichenden Streitfragen hinsichtlich einer dialektischen Logik sowie mit Schwierigkeiten der Erkenntnistheorie und der Metaphysik zu tun. Die uralte Frage nach dem Verhältnis von Analytik und Dialektik ist auch heute noch nicht vom Tisch. Deswegen gibt es weiterhin (wenn auch nicht unbedingt zu den Hegelkennern zählende) Leute, die ohne große Bedenken behaupten, eine "dialektische" Theorie könne deswegen keine "gute" Theorie sein, weil sie gnadenlos gegen das aristotelische Non-Kontradiktionsverbot verstößt. An jenem Fazit lässt sich gleichwohl festhalten: Es gibt professionelle Wertideen, welche "objektiv" zu den immanenten Eigenschaften "guter" Theorien zu rechnen sind und nicht 'subjektiv" in den Wertorientierungen ihrer Urheber aufgehen. Selbstverständlich müssen sich die Autoren persönlich von derartigen Prinzipien bei der Theoriebildung leiten lassen, auf dass wissenschaftliche Aussagensysteme dann diese erwünschten Eigenschaften aufweisen können. Nach all dem bildet eigentlich die Dichotomiethese den entscheidenden Stein des Anstoßes bei Werturteilsstreitigkeiten (s.o. S. 16ff.). Folgt man Max Webers Auffassung, dann liegen die mit professionellen Werten der wissenschaftlichen Zunft getränkten Tatsachenaussagen (der Dichotomiethese entsprechend) in einem Bereich, der logisch fein und säuberlich von den Wertungen der Ethik, der Politik, der Wirtschaftspolitik, des religiösen Glaubens, der ästhetischen Beurteilung etc. zu trennen und frei zu halten ist, denen die Theoriebauer und Forscher sich ansonsten verpflichtet fühlen. Das Verhältnis von Werturteilen und Tatsachenurteilen versteht sich demnach als eine strikte Disjunktion, als ein ausschließendes Entweder-Oder (Schwarz oder Weiß; es gibt keine Grautöne!). Für Weber bestehen "Wertungen" in praktischen Urteilen über eine "durch unser Handeln beeinflussbaren Erscheinung als verwerflich oder billigenswert" (GWL 489). Deswegen müsse man sich als rechtschaffene Wissenschaftlerin und rechtschaffener Wissenschaftler auf den Wegen schärfster logischer Unterscheidungen "unerbittlich" klar machen, "was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist" (GWL 490; Herv. i. Org.). Man kann wohl behaupten, dass die so verstandene Dichotomiethese den semantischen Kern dessen verkörpert, was von vielen Wissenschaftlern bis auf den heutigen Tag unter dem Postulat der Werturteilsfreiheit der Forschung, der Theoriebildung und des wissenschaftlichen Vortrags vom Katheder herunter verstanden wird. Es gab Zeiten, zu denen ein jeder Versuch zur Problematisierung der Dichotomiethese den erbitterten Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit", wenn nicht der ideologischen Parteilichkeit für klammheimlich in die Tatsachenaussagen eingeschmuggelte politische Zielsetzungen wirrer Geister hervorrief. Sie sind nicht vorbei. Im Gegenteil: In der jüngeren Vergangenheit haben sich scharfe Auseinandersetzungen zwischen Naturwissenschaftlern einerseits, Geisteswissenschaftlern andererseits zu akademischen Gefechten zugespitzt, denen inzwischen der Charakter von 'science wars' zugeschrieben wird. Zwei Beispiele dafür, welche Argumente gegenwärtig dennoch zur Problematisierung der Dichotomiethese herangezogen werden, sollen im Folgenden kurz umrissen werden.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-658-02194-8_5

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Ritsert, J. (2013). Über einige Kritiken an der Dichotomiethese und ihrer Struktur, in Wert, Dordrecht, Springer, pp. 47-60.

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